17/04/2024
Gedenken an den 16. April 1945
Liebe Zerbsterinnen und Zerbster,
es ist ein fester Termin für die Kirchengemeinden und die Stadt Zerbst/Anhalt, aber auch für viele Bürgerinnen und Bürger, gemeinsam an die Stunde des Luftangriffs des 16. April 1945 und den dann tagelangen Brand unserer Stadt zu erinnern und der Opfer zu gedenken.
Am Sonnabend trafen sich Bürgerinnen und Bürger unterschiedlichen Alters in Walternienburg, um dort an die Kämpfe um die Elbquerung von Barby nach Walternienburg am 12. April 1945 zu erinnern.
Beide Ereignisse, die Elbquerung der amerikanischen Truppen und die Zerstörung unserer Stadt wenige Tage danach sind eng miteinander verwoben. Wir rufen uns in diesen Tagen Ereignisse in Erinnerung, die nun schon 79 Jahre zurück liegen.
Der Klang der Glocken und in diesem Jahr auch der Sirenen, lassen vermutlich die Menschen in dieser Stadt auch außerhalb dieses Friedhofs für einen Moment innehalten. Ein Innehalten, für das die Menschen in dieser Stadt am 16. April 1945 ab 10.20 Uhr keine Chance hatten.
Viele suchten trügerische Zuflucht in den Kellern, die dann vielfach zu Todesfallen wurden. Andere versuchten noch in letzter Minute aus der Stadt zu fliehen. Bislang verknüpften wir unser Erinnern und Gedenken mit Schilderungen von Zeitzeugen über das Er- und Überlebte. Dem Lauf der Jahre ist es geschuldet, dass wir dafür heute meist nur noch schriftliche Zeugnisse nutzen können, weil selbst jene, die diese Tage als Kinder erlebten, heute ein hohes Alter und oft nicht mehr die Kraft haben, sich selbst zu Wort zu melden.
Der Zerbster Heimatforscher Helmut Hehne hielt über diesen Tag fest:
Sie kamen in fünf Pulks mit insgesamt 154 Maschinen des Typs B 17, auch Flying Fortress, „Fliegende Festungen“ genannt. Sie warfen über der Stadt eine Bombenlast von 116.213,5 kg Sprengbomben und 89.694 kg Brandbomben ab.
Die traurige Bilanz nach dem Bombenangriff und die sich anschließende Feuersbrunst lässt einerseits schaudern, anderseits sind es Zahlen, die sich einem wirklichen Erfassen oder gar Verstehen entziehen:
574 Todesopfer durch den Bombenangriff unmittelbar
126 ha zerstörte Stadtfläche
372.000 m³ Trümmermassen
1.433 zerstörte Häuser
4.130 vernichtete oder beschädigte Wohnungen
16 beschädigte öffentliche Gebäude sowie verheerende Schäden an den Versorgungsleitungen.
Das sind Zahlen, die für uns heute Lebende nicht greifbar sind. Zumindest für diejenigen, die hier bzw. in Deutschland geboren wurden. Ganz anders werden Menschen damit umgehen, die die Flucht vor dem Krieg zu uns führte.
Unser Gedenken an die Ereignisse des 16. April 1945 und der Tage und Wochen danach war immer verbunden mit den Berichten von Zeitzeugen. Es gehört in gewisser Weise dazu, denn so entreißen wir die Ereignisse jener Tage ein Stück der Anonymität. Wir können sie dadurch mit Namen und Familien verbinden, die noch heute in unserer Stadt leben.
Die Aufzeichnungen müssen auch Teil der Auseinandersetzung, Teil des Schulunterrichts bleiben. Dort wo sie es noch nicht sind, müssen sie es werden. Diese Berichte geben dem Grauen einen Namen, eine Stimme und ein Gesicht.
Wenn wir uns in den zurückliegenden Jahren zur gleichen Stunde hier trafen, verbanden wir unser Erinnern immer auch mit einem Blick in die Gegenwart. Mahnend gingen wir auf die Ereignisse auf anderen Kontinenten ein. Der Frieden zumindest in Europa schien nicht ernsthaft in Frage zu stehen. Wie trügerisch diese Einschätzung vielleicht von an Anfang an war, führte uns schon der Zerfall Jugoslawiens und der damit ausgebrochene Krieg auf dem Balkan vor Augen.
Heute, am 16. April 2024 sieht die Lage, sieht die Welt noch viel schlimmer aus. Im Frühjahr 2014 besetzte Russland die Krim. Am 21. Februar 2022 erklärte Wladimir Putin offiziell, dass das mühsam ausgehandelte Minsker Friedensabkommen aus dem Jahr 2015 keine Chance mehr habe. Einen Tag später fielen die ersten russischen Bomben und Raketen auf die Ukraine. Und sie fallen noch immer, verursachen Tot, Zerstörung, trennen Familien, verursachen Leid.
Spätestens seit dem Tag des Angriffs auf die Ukraine hat sich die Sicherheitslage auch in Deutschland geändert. Der Krieg in der Ukraine geht mit einem Wirtschaftskrieg einher, der auch in Deutschland seine Spuren hinterlässt.
Er reißt Gräben der politischen Auseinandersetzung auf, in denen sich die Befürworter und Gegner der militärischen Unterstützung der Ukraine fest eingegraben haben und einen Dialog schon in Deutschland kaum zulassen. Aber schlimmer noch, es ist kein Ende des Krieges in der Ukraine in Sicht.
Deutschland leistet mit der Aufnahme von Flüchtlingen und der mit den NATO-Partnern abgestimmten Bereitstellung von Waffen und Munition einerseits eine enorme Unterstützung, andererseits nehmen die Stimmen zu, die sich besorgt fragen, welche Strategie es eigentlich für einen Frieden gibt. Wer diese Fragen laut stellt, wie Rolf Mützenich im Bundestag oder Papst Franciscus in Rom, steht schnell im Verdacht, die Ukraine im Stich lassen zu wollen.
Ich sehe diejenigen, die die Frage nach einem Exit aus dem Krieg stellen nicht in der Tradition des Appeasements des Münchner Abkommens des Jahres 1938. Es geht gerade nicht um die Ermutigung eines Aggressors. Wir müssen heute Fragen erörtern, die den Überlebenden des zweiten Weltkrieges Schauer über den Rücken jagen, alte Bilder vor dem inneren Auge zurückkehren lassen.
Fragen nach der Wiedereinführung der Wehrpflicht oder nach Zivilschutzeinrichtungen. Wie schnell können Truppen und Kampfbrigaden von West nach Ost verlegt werden?
Bis hin zur Ermittlung von Luftschutzräumen, die übrigens bei einem digitalen Kriegsakt auf die Wasser- oder Energieversorgung gänzlich nutzlos wären.
Wir blicken in das Angesicht des Krieges und haben Angst um den Frieden. Zu Recht!
Die Bilder des Krieges in der Ukraine vermischen sich mit den Bildern ermordeter Israelis vom 7. Oktober 2023, den Kriegsbildern aus dem Gaza-Streifen und den Opfern des Anschlags auf das Moskauer Konzerthaus am 23. März 2024.
Lange schon nicht mehr, war der Krieg so nah.
Wenn wir also so wie heute an die Ereignisse vor 79 Jahren erinnern, treten zu den Berichten der Überlebenden des 16. April 1945 unweigerlich die Berichte und Bilder unserer täglichen Nachrichten von heute. Während die heute 90jährigen die Bilder ihrer Kindheit auferstehen sehen und sich fragen, ob wir denn gar nichts aus unserer Geschichte gelernt haben, stellen sich den später geborenen Generationen existenzielle Fragen an die eigene Zukunft.
Deshalb haben wir leider gute Gründe, an das Geschehen im April 1945 an der Elbe bei Walternienburg und heute, am 16. April an die Zerstörung der Stadt Zerbst am gleichen Tag des Jahres 1945 zu erinnern. Wir erinnern an Menschen, die gefallen sind, an die Zerstörung unserer Stadt, weil sich das Nazi-Deutschland größer und überlegen wähnte, als den Rest der Welt und Deutschland und Europa zum Schlachthaus machte. Ein Schlachthaus, dass sich nicht auf die Kriegsfelder beschränkte, sondern in Vernichtungslagern wie Auschwitz Menschenleben millionenfach auslöschte und Städte und Dörfer selbst noch kurz vor Ende des Krieges zu Todesfallen werden ließ, um mit dem sogenannten Führer unterzugehen.
Die Erinnerung an die Zerstörung unserer Stadt am 16. April 1945 und das damit verbundene Leid bleiben darum untrennbar mit der Forderung verbunden, Krieg als Option endlich dauerhaft und nicht nur vor unserer Haustür zu ächten. Wir stehen in der Verantwortung gegenüber den Menschen, Frauen, Männern, Kindern und Greisen, die hier ihre letzte Ruhe fanden und denen, die den Wahnsinn des 2. Weltkrieges überlebten und unser Land und Europa neu aufbauten.
„Nie wieder!“ hieß es damals. Nie wieder - ist jetzt!