26/03/2021
Die Kunst, keine Brötchen zu kaufen
Kürzlich war ich beim Bäcker. Der Gedanke an einen Doppel-Wasserweck, ein Laugenbrötchen und (fürs schlechte Gewissen) eine Vollkornsemmel ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Der Laden war zwar leer, aber niemand kümmerte sich um mich. Die Bäckereifachverkäuferin war damit beschäftigt, die ofenwarmen Bretzel in die Auslage einzusortieren und so blieb mir Zeit, den Blick schweifen zu lassen. Die Teilchen sahen lecker aus, der Kuchen war herrlich und die Brote hatten eine wunderbare, rösche Kruste. Alles hätte seinen Gang gehen und mein Samstagfrühstück zu einem gelungenen Auftakt des Tages werden können.
Da blieb mein Blick an einem unscheinbaren kleinen Zettel haften, der an eine Schublade geklebt war. „Privat-Schublade SAUBER !!!Halten!!!“ stand darauf. Die Bäckereifachverkäuferin räumte immer noch Bretzel ein. Was, so fragte ich mich, könnte in einer solchen Privatschublade sein? Ein Schlüsselbund vielleicht, ein Päckchen Tempotaschentücher, ein Pullover, falls in der Übergangszeit die Tür zu lange offensteht? Es könnten aber auch lebenswichtige Medikamente, ein Brillenputztuch oder – wenn die Männerfantasien durchgehen – eine Großpackung Kondome sein.
Ein zweiter Blick auf das Schild zeigte mir jedoch, wo das eigentliche Haar in der Suppe lag. Der Inhalt der Schublade war bestenfalls in zweiter Linie von Interesse. Ganz vorne stand der Imperativ, die Frage, was uns die Verfasserin oder der Verfasser eigentlich sagen wollte. „Sauberhalten“, klar, wer möchte schon, dass in seiner Schublade, Essensreste vor sich hingammeln, stinkender Müll liegt oder alte Klebeetiketten an Seitenwänden und Boden kleben?
Aber halt, warum muss das separat betont und im Zusammenhang mit der Zuschreibung „Privat“ genannt werden? Bedeutet das nicht, dass alles, was nicht privat ist, auch nicht sauber gehalten werden muss? Hallo, wir haben es hier mit Lebensmitteln zu tun, da muss es überall sauber sein.
Die Bäckereifachverkäuferin war bei der letzten Kiste Bretzeln angelangt. Die Einmal-Plastikhandschuhe, die sie trug, waren schon ein bisschen milchig. Sehen eindeutig gebraucht aus, dachte ich, und war das nicht ein Fleck auf ihrem T-Shirt? Ich senkte ein wenig den Kopf, um besser in die Ecken der Auslage sehen zu können. Hinten links lag etwas Dunkles. Wahrscheinlich ein Wespenkadaver vom letzten Herbst! Unter den Kaffeetassen im Regal war es grau, vielleicht eine Folie, vielleicht aber auch eine Staubschicht, die sich schon in das Holz gefressen hatte.
Natürlich war der Laden auch keine „Familienbäckerei“, wie es in der Werbung hieß, sondern die Filiale eines Großunternehmens. Vor meinem inneren Auge sah ich ein schmutzigbraunes Gebäude in einem abgeranzten Industriegebiet, vor dem gerade der klapprige LKW der nahegelegenen Mühle vorfährt. Als der Vorratsbehälter der Bäckerei geöffnet wird, verdunkelt eine Wolke aus Mehlmotten die Sonne, am Boden des Behälters wimmeln die Maden. In der Backstube, die eine Backhalle ist, flitzen flinke Mäuschen über den Boden und hinterlassen hier und da ihre Kötteln. Vor dem Rührwerk steht ein ältlicher Bäcker, dessen grauschwarzen, fettigen Haare aus dem nachlässig aufgesetzten Haarnetz quellen. Da er sich unbeobachtet wähnt, zieht der Bäcker hörbar die Luft durch die Nase und spuckt einen dicken Schleimklumpen in den Doppel-Wasserweck-Teig. Mir wird schlecht.
„Entschuldigung“, riss mich die Bäckereifachverkäuferin aus dem Albtraum, „ich bin heute allein und die Bretzel müssen schnell aus den Körben, sonst werden sie weich.“ Sie schaute mich mit einem gewinnenden Lächeln an. Ihre Plastikhandschuhe waren werksseitig milchig, der Fleck auf ihrem T-Shirt entpuppte sich als das Label einer renommierten Modefirma. „Was kann ich für Sie tun?“
Fast wäre ich weich geworden. Aber spätestens seit dem Grafen Potemkin weiß jeder, dass Fassaden täuschen können. Umständlich nestelte ich in meiner Jackentasche, murmelte „Ich glaube, ich habe meinen Geldbeutel vergessen“, machte auf dem Absatz kehrt und verließ schnellen Schrittes die Bäckerei.
Zuhause schnitt ich mir einen schrumpeligen Apfel in eine Schale, streute einen Esslöffel fahler Haferflocken darüber und goss das Ganze mit Magermilch auf. Es wurde ein Sch…samstag.