13/12/2023
Auszug aus »An Namen (Platon, Rousseau, Zola, Freud etc.)« von Philippe P. Haensler:
»[…] wenn man z. B. von einem sonst schamhaften Mädchen verlangt, sich zu entblößen, oder von einem ehrlichen Mann, sich einen wertvollen Gegenstand durch Diebstahl anzueignen, kann man einen Widerstand […] bemerken […].«
– S. Freud, Psychische Behandlung (Seelenbehandlung)
Im Jahr 1938 verfasst Sigmund Freud eine Notiz, an deren Anfang ein Datum, in direktem Anschluss eine -nahme zu lesen ist: »3.VIII. Letzter Grund aller intellektuellen und Arbeitshemmungen scheint« – eine Lektüre, die nicht an diesem Punkt des Texts schon aufgeben, vom Text aufblicken (und also schlicht -hören) will, hat keine andere Wahl, als Freuds Ansicht für den Moment für die eigene zu nehmen, einen Augenblick zu teilen –
»die Hemmung der kindlichen Onanie zu sein. Aber vielleicht geht es tiefer, nicht deren Hemmung durch äussere Einflüsse, sondern deren unbefriedigende Natur an sich. Es fehlt immer etwas zur vollen Entlastung und Befriedigung – en attendant toujours quelque chose qui ne venait point – und dieses fehlende Stück, die Reaktion des Or****us, äussert sich in Aequivalenten auf anderen Gebieten, Absencen, Ausbrüchen von Lachen, Weinen (Xy), und vielleicht anderem. – Die infantile Sexualität hat hier wieder einmal ein Vorbild fixiert.«
Anderen vielleicht anderes, scheint mir an diesem Gedankengang Freuds insbesondere bemerkenswert, dass er nicht aus einem Guss ist. Die intellektuelle Arbeit sieht sich, anders und genauer, hier zweifach gehemmt: einerseits durch einen äußeren Einfluss bzw. fremdsprachigen -schub – »en attendant toujours quelque chose qui ne venait point« –, der – eine Übersetzung der »fehl[enden]« »vollen Entlastung und Befriedigung«, ihr Äquivalent auf anderem, französischem Gebiet? – das Ende des Satzes hinauszögert, auf den abschließenden Punkt länger, als vielleicht nötig wäre, warten lässt; gehemmt andererseits oder ins Straucheln gebracht durch eine Klammer, die nichts (Wörtliches) enthält, dem Nachdenken Freuds gerade so, wortwörtlich nichts sagend, aber ein fehlendes Stück hin-, ihm ebendas Schlagloch zufügt, das sie (eben die Klammer und eben behelfsmäßig: in die Bresche, die sie selbst ist, springend; ein aus anderem Holz geschnitztes, aus einem Splitter antiken, altgriechischen Holzes, ξύλον [xylon], verfertigtes Brettchen darüberlegend) ausgleicht. Kurz: Freuds Sätze, die den »intellektuellen und Arbeitshemmungen« auf den »[l]etzte[n] Grund« und dabei noch »tiefer« »geh[en]« wollen, laden zur Suche ein. Nach Namen vor allem anderen: dem der Urheber*in des französischsprachigen Zitats (gesetzt, es sei ein solches) und dem wahren – und es muss ein Name sein, zumindest ein Wort und darf nicht mehr sein in den Augen der (Numero)Philolog*in, die in Freuds am 3.8. '38 verfassten Sätzen 83 Wörter zählen will – dessen, was sich unter »Xy« verbirgt. Die wissenschaftliche Archäologie – die nie ohne Grabungsplan arbeitet, einen jeden Fund, Bruchstücke des Griffs eines Messers etwa, exakt (auf x- und y-Achse) verzeichnet, ehe sie die nächste Schicht abträgt – hat Freud und seiner Lektüre wieder einmal ein Vorbild fixiert.
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Der Beitrag von Philippe P. Haensler findet sich frei verfügbar im eRISS:
https://www.risszeitschriftfuerpsychoanalyse.org/eriss
PDF-Download unter: https://www.risszeitschriftfuerpsychoanalyse.org/_files/ugd/4fe438_9fbd0e645f9046c89d2174269263c187.pdf?index=true
Die späte Notiz Freuds wird in Heft 99 des RISS außerdem kommentiert von Lilli Gast, Udo Hock, Aaron Lahl, Ulrike Kadi, Christian Kläui, Leon S. Brenner, Viktor Mazin, Camilla Croce und Karl-Josef Pazzini.
Link zum Heft: https://www.risszeitschriftfuerpsychoanalyse.org/riss-99