16/07/2024
INTERVIEW MIT TAD WILLIAMS - TEIL 2
Tad Williams, der Schöpfer so beliebter Bestseller-Reihen wie DER DRACHENBEINTHRON oder OTHERLAND (Hobbit Presse / Klett-Cotta Verlag), kam im Mai 2024 zum ersten Mal seit 2017 [Nautilus berichtete] auf Lesetour nach Deutschland. Den Auftakt gab Williams auf der Eröffnungsveranstaltung des Lesefestivals von Buchmesse Saar in Dillingen.
NAUTILUS hatte die Gelegenheit, dem kalifornischen Autor einige Fragen zu stellen. Aufgrund des Umfangs wird das Interview in mehrere Teile getrennt. Es folgt hier der zweite von drei Teilen.
► Jetzt läuft also der Countdown für den Abschluss dieses vier (oder sechs) Bücher umfassenden Handlungsbogens in Osten Ard. Gibt es schon etwas, das Sie uns über das große Finale verraten können? Werden die Leserinnen und Leser die Welt von Osten Ard danach noch wiedererkennen?
Ja, sie werden die Welt von Osten Ard immer noch erkennen!
Wissen Sie, die spannendste Sache dabei ist, dass ich ja nicht nur diese vier Bände abschließe. Da gibt es auch noch die beiden weiteren Teile mit zwei kleineren Büchern [DAS HERZ DER VERLORENEN DINGE, BRÜDER DES WINDES]. Man braucht diese beiden Romane nicht zum Verständnis, aber es erweitert den Blick auf das, was in der größeren Geschichte passiert. Mir wurde auch klar, dass dies eine Gelegenheit war, ein paar lose Fäden aus der vorherigen Reihe [DER DRACHENBEINTRHON] zu verknüpfen. Das Finale wird also einige offene Fragen beantworten und Geheimnisse aus etwa zehn Bänden aufklären.
Das ist eine Menge Stoff, was einer der Gründe war, warum es in zwei Bücher aufgeteilt werden musste. Wir erfahren Dinge wie, wer Pryrates' Haushälterin war. Das klingt ziemlich obskur, aber es ist tatsächlich bedeutungsvoll, und wir werden im letzten Band herausfinden warum. Wir werden erfahren, wer mit wem verwandt ist, von dem wir das vorher nicht wussten.
Ich wollte, dass die Leser das Gefühl haben, dass es sich gelohnt hat, zehn Jahre oder länger darauf zu warten, dass das alles aufgeklärt wird. Aber nichts davon wird im Widerspruch zu den bereits erschienenen Büchern stehen. Ich werde also nicht plötzlich sagen “ach, und das war alles nur ein Traum”. Es ist nicht diese Art von Twist, sondern mehr ein “Oh mein Gott, wirklich!?”
Ich hoffe, dass das einige meiner Leserinnen und Leser dazu animieren wird, die alten Bücher noch einmal zu lesen und dann zu merken: “Okay, jetzt weiß ich, was das zu bedeuten hatte!”
► Apropos Finale von Serien: Es gibt mindestens zwei prominente Beispiele für unvollendete Fantasy-Epen, bei denen die einst begeisterten Fans mittlerweile ziemlich gehässig wurden. “Toxisches Fandom” ist auch in der literarischen Welt zum Thema geworden, besonders in der Genre-Literatur. Hat Sie das beunruhigt? Sie mussten schließlich einige Veröffentlichungstermine verschieben, weil Sie sich einer Operation unterziehen mussten.
Was ich jetzt sage, ist mir fast ein bisschen peinlich, weil es ungefähr so uncool klingt, wie dafür bekannt zu sein, nie die Schule geschwänzt zu haben. Aber jeder, der mich kennt, weiß, dass ich meine Bücher immer abschließe.
Ich habe jetzt vier oder fünf mehrbändige Serien geschrieben und sie alle beendet. Teilweise liegt das daran, wie ich sie aufbaue. Andererseits liegt es aber auch daran, dass ich nicht viel Anderes mache, wenn ich schreibe, damit der Schwung erhalten bleibt und das Buch für mich lebendig bleibt. Autoren, die ihre Projekte nicht beenden, haben ihre persönlichen Gründe, entweder weil sich ihre Prioritäten ändern oder plötzlich andere Dinge in ihrem Leben passieren, um die sie sich kümmern müssen.
Ich kann mir nicht vorstellen, eine meiner Reihen nicht zu beenden, gerade auch wegen der Fans. Teilweise liegt das aber daran, dass ich keine toxischen Fans habe. Ich habe noch nie einen meiner Leser getroffen, neben dem ich nicht gerne auf einer langen Busfahrt sitzen würde. Keiner von ihnen hat mir je ein ungutes Gefühl bereitet. Ganz im Gegenteil, sie scheinen alle wirklich nett zu sein. Vielleicht ist es eine Schwäche in meiner Arbeit, dass ich nicht mehr irre Leute anziehe?
Deshalb möchte ich nicht, dass meine Leserschaft sich betrogen fühlt, wenn sie sich von mir auf eine Lesereise mitnehmen lässt, mit Charakteren, die ihnen wichtig sind. Das bedeutet nicht, dass jede dieser Figuren ein glückliches Ende haben muss oder keine davon umkommt. Aber ich möchte nicht, dass die Leser das Gefühl haben, “oh, er hat das nur gemacht, um kontrovers zu sein oder um den Fans zu gefallen”. Nein, ich habe ihnen diese Charaktere vorgestellt, also werde ich ihnen deren Geschichte erzählen, auch die der Nebenfiguren.
Ich denke, meine Leserinnen und Leser schätzen das, und daher vertrauen sie mir, solange ich die Sache nur zu Ende bringe.
► Viele Autoren sind heutzutage zu wahren Social-Media-Profis geworden, entweder aus Notwendigkeit oder auf Druck der Verlage. Auch Sie pflegen eine Social-Media-Präsenz, aber eine eher zurückhaltende. Doch während COVID haben Sie mit Online-Lesungen begonnen und sie seitdem beibehalten.
Ja, ich habe damit einfach weitergemacht. Gelegentlich mache ich ein paar Wochen Pause zwischen den Büchern, aber insgesamt waren es bisher etwa 400 Lesungen. Sie sind alle auf YouTube zu finden.
► Was ist besonders an dieser Form der Interaktion mit Ihren Lesern? Wie ist die Resonanz? Ist das eine Gruppe von Hardcore-Fans?
Oh, es ist definitiv eine Hardcore-Gruppe. Es war etwas, das ich während der Pandemie machen wollte. Es war meine Art, eine Verbindung mit Menschen zu haben. Ich weiß, dass viele meiner Leser gerne über soziale Medien mit mir in Kontakt bleiben oder mich treffen möchten, wenn ich auf Lese-Tour gehe. Also war es zunächst als Möglichkeit gedacht, dasselbe von zu Hause aus zu tun. Nach einer Weile wurde es einfach zu einer Institution. Ich kenne jetzt fast alle Namen der Teilnehmer und werde wahrscheinlich einige von ihnen auf dieser Tour treffen.
Ich vermisse es richtig, wenn ich länger aussetze, und zwar nicht weil mein Ego gestreichelt werden will oder so. Es ist wie ein regelmäßiges Treffen mit Freunden, so wie eine Bowling-Runde.
Allerdings muss ich mir langsam Gedanken darüber machen, was ich als nächstes lesen werde, denn ich bin schon so ziemlich mit allen meinen Texte durch, einschließlich meiner Kurzgeschichten.
► Ich hatte kürzlich den Gedanken – völlig unwissenschaftlich und ohne Statistiken oder andere Beweise – dass die Blütezeit der großen, langen Fantasy-Epen vorbei sein könnte. Sie haben eine ziemlich lange Karriere im Literaturbetrieb des Genres hinter sich, beinahe 40 Jahre. Wie empfinden Sie das?
Dafür sehe ich keine Zeichen. Interessant daran ist aber, dass es mich an den Grund erinnert, warum ich DER DRACHENBEINTRHON schrieb, nämlich als Reaktion auf die wahre Schwemme an post-tolkienischer epischer Fantasy, die in den 1970er Jahren herauskam. Es gab Donaldson und David Eddings, und Raymund Feist hatte gerade sein erstes Buch herausgebracht. Alles nette Leute, und es sind einige richtig gute Schriftsteller darunter, aber ich hatte das Gefühl, dass die meisten von ihnen Tolkien recycelten, als sei das die einzige Art, Fantasy zu schreiben. DER DRACHENBEINTHRON war teilweise eine Reaktion auf die Konventionen und Tropen, die Tolkien liebte und derer er sich bedient hatte. Seine Nachfolger aber imitierten ihn, ohne richtig zu verstehen, warum er so geschrieben hatte.
Schon bevor ich mein erstes Buch, TRAUMJÄGER UND GOLDPFOTE, schrieb, dachte ich: “Es gibt jetzt so viele epische Fantasy-Bücher, und keines davon fühlt sich richtig für mich an, weil sie alle nur wie ein Abklatsch wirken.”
Später war OTHERLAND mein Versuch, etwas zu schreiben, das die Muster der Fantasy nutzte, aber auf eine moderne Art, wie Tolkien sie nicht hätte schreiben können, sondern nur ich.
Ich habe keine Ahnung, was die Zukunft der epischen Fantasy bringt, aber ich bin sicher, dass Autoren kommen werden, die ganz neue Trends etablieren werden, und dann wird wieder eine neue Generation kommen und sagen: “Oh Gott, jetzt schreibt jeder nur noch Epen in Usbekistanischer- oder was auch immer - Tradition!”
► Wir werden nun in andere literarische Universen springen – nämlich zu ihrer OTHERLAND-Reihe – aber wir bleiben nahe am Thema, nämlich den “Konventionen” in der Literatur. Ich erinnere mich, dass auf X (vormals Twitter) argumentiert wurde, dass Sie als der stereotype 𝘸𝘦𝘪𝘴𝘴𝘦 männliche Autor über eine 𝘴𝘤𝘩𝘸𝘢𝘳𝘻𝘦, weibliche Protagonistin und einen San [Anm: das Volk der San wurde früher oft “Buschleute” genannt] schrieben. Wiederum andere Leute sagten, genau deshalb sei die OTHERLAND-Reihe ihrer Zeit voraus gewesen. Ist das etwas, das Sie heute noch schreiben könnten oder wobei Sie sich wohl fühlen, es geschrieben zu haben?
Nun, ich könnte und würde es sicherlich tun, weil ich nicht an literarische Charaktere glaube, die eine rein symbolische Funktion haben. Das ist ein Konzept, das ich einfach nicht verstehe, es funktioniert für mich nicht. Ein Charakter muss ein Individuum sein. Er muss sich wie eine Person anfühlen, die man tatsächlich treffen könnte, mit all ihren Macken.
Das eigentliche Problem liegt im öffentlichen Diskurs, dem politischen Diskurs in der Literatur, und ich bin sicher, dass es immer Leute geben wird, die glauben, dass man über nichts schreiben darf, was man nicht selbst ist. Ich halte das für absolut lächerlich. Nicht, dass ich die Gründe dahinter nicht verstehe! Ich verstehe vollkommen, dass es Gruppen von Menschen gibt, die unterrepräsentiert sind, deren Stimmen unterrepräsentiert sind und in vielen Fällen von 𝘸𝘦𝘪𝘴𝘴𝘦𝘯 Männern überschrieben wurden. Männer, die über diese Menschen geschrieben haben und damit gesagt haben: “So sind diese Leute.” Ich verstehe also die Unzufriedenheit und die Sorge darüber.
Aber ein Künstler, der nur Bücher über sich selbst schreiben kann, ist für mich eine verdammt langweilige Vorstellung. Stellen Sie sich vor, man würde alles in Shakespeare streichen, was nicht vom 16. Jahrhundert handelt, oder von Orten, an denen er persönlich nicht war. Er schrieb DER KAUFMANN VON VENEDIG, obwohl er nie in Italien war. Ich will mich nicht mit Shakespeare vergleichen, aber die Vorstellung, dass man sich auf das beschränken muss, was man persönlich erlebt hat, dass man keine schwulen Charaktere haben kann, wenn man hetero ist, und keine 𝘴𝘤𝘩𝘸𝘢𝘳𝘻𝘦𝘯 Charaktere, wenn man ein 𝘞𝘦𝘪𝘴𝘴𝘦𝘳 ist, und keine weiblichen Charaktere, wenn man männlich ist, das ist ein ziemlich verquerer Ansatz. Denn dann müsste das gleiche auch umgekehrt gelten – dann sollten Frauen keine männlichen Charaktere schreiben usw.
Das Einzige, was ich für notwendig halte, ist der öffentliche Diskurs. Ich werde immer versuchen, Charaktere zu schreiben, die ich verstehe, und Empathie für sie zu haben, wenn ich sie schreibe. Mehr kann ich als Schriftsteller nicht tun. Aber die Idee, dass ich mich auf das Schreiben über im 20. und 21. Jahrhundert geborene, heterosexuelle, kalifornische männliche Charaktere beschränken muss, erscheint mir lächerlich.
Das Interview führte Carsten Schmitt - Autor | Nautilus - Fantasymagazin
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