01/08/2022
Teil 2
KARRIERE ALS KOMIKER
Seit dem 24. Februar hat Wolodymyr Selenskyj zweifelsohne den Nachweis erbracht, dass er ein ungewöhn-lich begabter Künstler der internationalen Politik ist. Für diejenigen, die seine Karriere als Komiker verfolgt hatten, war dies auch keine Überraschung, weil sie seinen angeborenen Improvisationsgeist, seine panto-mimischen Fähigkeiten und seine kühne Spielweise bereits kannten. Schon die Art und Weise, wie er den Wahlkampf führte und innert weniger Wochen zwischen dem 31. Dezember 2018 und dem 21. April 2019 sogar hartgesottene Gegner wie den ehemaligen Präsidenten Poroschenko ausschaltete, indem er dessen eigenes Produktionsteam und grosszügigen oligarchischen Gönner mobilisierte, hatte das Ausmass seines Talents bewiesen. Nun galt es nur, aus dem Erfolg etwas zu machen. Dies ist gerade jetzt geschehen.
Doch wie so oft gleicht die Fassade nur selten den Kulissen. Das Rampenlicht verbirgt mehr, als es zeigt. Und hier muss man leider auch feststellen, dass das Bild nicht so glänzend ist: Sowohl seine Leistungen als Staatsoberhaupt als auch jene als Verteidiger der Demokratie lassen zu wünschen übrig.
Ein Talent fürs Doppelspiel liess Selenskyj gleich nach seiner Wahl erkennen. Als er bekanntlich mit 73,2 Prozent der Stimmen gewählt wurde, versprach er, er werde der Korruption ein Ende setzen, die Ukraine auf den Weg des Fortschritts und der Zivilisation führen und vor allem Frieden mit den russischsprachigen Bewohnern des Donbass schliessen. Gleich nach seiner Wahl brach er alle seine Versprechen derart eifrig, dass seine Beliebtheitswerte im Januar 2022 auf 23 Prozent absackten und er sogar hinter seine beiden Hauptkonkurrenten zurückfiel.
Zur Befriedigung seiner oligarchischen Geldgeber startete der neugewählte Präsident bereits im Mai 2019 ein massives Bodenprivatisierungsprogramm, das 40 Millionen Hektar gutes Agrarland umfasste – unter dem Vorwand, das Moratorium für den Landverkauf habe das Bruttoinlandprodukt (BIP) des Landes um Milliarden Dollar geschmälert. Im Rahmen der seit dem Staatsstreich vom Februar 2014 eingeleiteten «Entkommuni-sierungsund Entrussifizierungs-Programme» leitete er eine grossangelegte Kampagne ein, um Staatseigen-tum zu privatisieren, Haushaltskürzungen vorzunehmen, die Arbeitsgesetze zu deregulieren und die Gewerk-schaften zu entmachten, was eine Mehrheit der Ukrainer verärgerte, die nicht verstanden, was ihr Kandidat mit «Fortschritt», «Verwestlichung» und
«Normalisierung» der ukrainischen Wirtschaft eigentlich meinte. Das Land kam 2020 nur noch auf ein Pro-Kopf-Einkommen von 3726 US-Dollar, Russland dagegen auf 10 126 US-Dollar. Das war kein schmeichelhafter Vergleich, umso weniger als die Ukraine 1991 noch ein höheres Durchschnittseinkommen verzeichnet hatte als Russland. Verständlich, dass die Ukrainer diese zigste neoliberale Reform nicht bejubelten.
Was den Marsch in Richtung Westen angeht, so bekam dieser die Form eines weiteren Erlasses, der am 19. Mai 2021 die Vorherrschaft der ukrainischen Sprache sicherte und das Russische aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens, Behörden, Schulen und Geschäften verbannte – zur grossen Zufriedenheit der Nationa-listen und zum Erstaunen der russischsprachigen Bevölkerung im Südosten des Landes.
In Sachen Korruption sieht die Bilanz nicht erfreulich aus. 2015 war die Ukraine nach Einschätzung des Gua-rdian das korrupteste Land Europas. Im Jahr 2021 wies Transparency International, eine westliche NGO mit Sitz in Berlin, der Ukraine den 122. Platz in der weltweiten Korruptionsrangliste zu, nah beim verhassten Russland (136. Platz). Keine Glanzleistung für ein Land, das angesichts der russischen Barbareien als Inbegriff der Tugend gelten soll. Korruption ist allgegenwärtig, in Ministerien, Behörden, öffentlichen Unternehmen, im Parlament, bei der Polizei und sogar beim Hohen Gericht für Korruptionsbekämpfung, wie die Kyiv Post berichtet. Nicht selten sehe man Richter im Porsche, wie Zeitungen berichten.