14/08/2024
Buch-Tipp
Ivan Cankar EINE EINZIGE NACHT Slowenische Bibliothek Mit einem Nachwort des slawischen Literaturwissenschaftlers Peter Scherber (Göttingen und Wien)
WIESER/DRAVA
REZENSION
In dem Band „Eine einzige Nacht“ der Slowenischen Bibliothek, die im Wieser Verlag herausgegeben wird, finden wir Kurzprosa, Skizzen und Erzählungen, man könnte auch kurze Novellen dazu sagen.
Wer war dieser Ivan Cancer? Peter Scherber schreibt im Nachwort, es handele sich bei ihm um den „wohl bedeutendsten Prosaschriftsteller der Slowenen des 20. Jahrhunderts, der zwischen 1876 und 1918, also schon mit nur 43 Lebensjahren verstarb. Er begann beim Schreiben mit Poesie, wendete sich jedoch bald der Prosa zu, wie wir dem Nachwort entnehmen.
Cankar wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Der Initiator und Mentor der slowenischen Literatur Lojze Wieser traf auf den Literaten, als er wieder einmal in einem Antiquariat nach Fundsachen stöberte und 600 Exemplare von Ivan Cankars Buch “Der Knecht Jernej” kaufte. Innerhalb weniger Wochen hatten neugierige Leser die Auflage aufgekauft.
Was für eine Wortgewalt, wenn in dem Text „Vom Menschen, der die Überzeugung verlor“ aus dem Jahr 1899 folgendes zu lesen ist: „Er hatte die Gewohnheit, nach seiner Überzeugung zu sehen, bevor er sich das letzte Mal im
Bett umdrehte. Bis nun lag sie immer jungfräulich und unberührt auf dem Tisch und Job drückte die Augen zu und fühlte im Halbschlaf zufrieden seinen Bauch. Heute war die Überzeugung nirgends
zu erblicken.“
In der Erzählung „Schnee“ werden wir in eine ruhende Landschaft versetzt, es ist also mal wieder Winter und es schneit kräftig, so wortgewaltig beschrieben, als hätte gottselig Adalbert Stifter aus dem Bayerischen Wald die Feder geführt.
„Schnee … nichts als Schnee. Nirgends ein grünes Blatt, nirgends eine Blume. Alles farblos, duftlos, lautlos. – Auch die Sonne hielt sich verborgen, als fürchte sie, es könnten selbst ihre Strahlen in dieser eisigen Öde erstarren.“
Man liest sich förmlich fest an den Texten, bleibt kleben an Formulierungen, an Wortwahl, an dialogischem Einfallsreichtum.
Die Protagonisten, meist ländliche Herkunft. Immer wieder sind es die starken Vater- und Mutterfiguren, die in den Texten eine Hauptrolle spielen. Keine Helden, eher kleine Leute, Kinder, Menschen mit Handicaps, Sonderlinge und Randexistenzen der bürgerlichen und bäuerlichen Welt, ja sogar Tiere, heißt es im Nachwort.
Wir lesen auch Politsatire, ja sogar schon damals wird ein Phänomen beschrieben, das wir auch heute beklagen, die zersplitterte, die geteilte, die sich feindlich gegenüberstehende polarisierte, gespaltene Gesellschaft, als wäre es ein Stück von heute: „Ach, mein Gott! – Wo sind jene Zeiten, jene herrlichen, primitiven Zeiten, als die Anschauungen und Gefühle wie aus einem Stück geschnitten waren, nicht zusammengesetzt aus verschiedenen schimmernden, buntfarbigen, mikroskopisch kleinen Teilchen!“
Im Text „Literarisch Gebildete“ nimmt er die allzu Ambitionierten aufs Korn: „Was sind das, unsere neuen für Literaten? Schimpferei, nur Schimpferei und Abschreiberei aus fremden Literaturen.“
Oh, das sitzt! Er beschreibt auch alltägliche Morgen- und Frühstücksszenen, und dann folgt Klartext: „Der Alltag mit seinen schreienden, erlogenen Farben duldet keine Nuancen und tötet die Kunst. Der Mensch unterwirft sich seiner Tyrannei und opfert ihm die Mehrzahl seiner Tage. Die Zeit, die ihm zugemessen ist, vertrödelt er in Äußerlichkeiten und Lügen.“
Es sind wirkungsstarke Dialoge, feinste kompetente und nahe Beschreibungen, Gefühlswallungen, Einsichten, Ansichten, Ironie, Religiöses, Glaubensfragen, Sprachliches und Literarisches, gefasst unter fast banalen Überschriften aus dem Alltagsleben wie „Eine Tasse Kaffee“ „Die heilige Kommunion“ oder „Onkel Simon“. Eine lohnenswerte Lektüre.
Ivan Cankar war Lyriker, Dramatiker und vor allem Prosaschriftsteller.