
22/02/2025
Ehrenpflicht
Im Jahr 1525, also vor 500 Jahren, verfassten in Memmingen die Allgäuer Bauern die „Zwölf Artikel“, die als eine der ersten niedergeschriebenen Erklärungen von Menschenrechten gilt und in ganz Deutschland und darüber hinaus Verbreitung fand. Gefordert wurden hier, mitten in den deutschen Bauernkriegen, Freiheits- und Wahlrechte. Rund 70.000 Menschen, darunter nicht nur Bauern, sondern auch viele Bürger, wurden damals beim Kampf für die Freiheit und Selbstbestimmung von den Söldnern der Fürsten erschlagen oder hingerichtet.
Der Schlossergeselle Leonhard Bethge war gerade 22 Jahre alt, als er bei den Barrikadenkämpfen unter den schwarz-rot-goldenen Fahnen der Märzrevolution 1848 in Berlin fiel, so wie mehr als 200 weitere Mitstreiter. Viele damalige Freiheitskämpfer, darunter der Hanauer August Schärttner, konnten sich nur dadurch retten, dass sie aus ihrer Heimat flüchteten. Ähnlich wie viele Sozialdemokraten, die durch Bismarcks Sozialistengesetze unterdrückt wurden. Sophie Scholl war gerade einmal 21 Jahre alt, als sie wie ihr Bruder und so viele andere unter dem Fallbeil starb, weil sie gegen die NS-Diktatur aufgestanden waren. Peter Fechter wurde nur 18 Jahre alt, als er im Kugelhagel der DDR-Grenzer elendig verblutete – nur weil er in Freiheit leben wollte.
Der Weg Deutschlands zu einem freiheitlichen Rechtsstaat und zur Demokratie ist ein blutiger Weg gewesen. Selbst die am 23. Mai 1949 gegründete Bundesrepublik, der freiheitlichste Staat, den die Deutschen je errichtet haben, ist nicht einfach ein „Geschenk“ gewesen, sondern aus dem Chaos der Tyrannei und des Weltkrieges entstanden. Auch das hat viele Menschenleben gekostet – auf Seiten der Deutschen und auf Seiten der Alliierten, die unser Land vom Nazi-Terror befreit haben.
Niemand von uns hat also das Recht, diese Demokratie und diese Freiheit als eine Selbstverständlichkeit zu betrachten oder leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Demokratie ist ein äußerst sensibles und leicht verletzliches Gut, wie wir in den letzten Jahren etwa in Ungarn oder der Türkei erleben mussten und nun schmerzlich in den USA erfahren. Die Demokratie kann sich durch Wahlen selbst einschränken oder gar abschaffen, wenn die Bürger ihre Stimme leichtfertig den Feinden der Demokratie geben. Der freiheitliche Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann, heißt es dazu in dem berühmten Diktum des Staatsrechtlers Böckenförde.
Die Demokratie kann nur durch ihre Bürger geschützt werden. Gleichgültigkeit ihr gegenüber lässt sie verkümmern. Und der beste Beweis gegen Gleichgültigkeit und das beste Bekenntnis zur Demokratie ist immer noch die Teilnahme an einer Wahl, so wie am morgigen Sonntag. Wer nicht schon per Briefwahl seine Stimme abgegeben hat, sollte deshalb den Gang in die Wahlkabine nicht aus Bequemlichkeit scheuen. In einer Zeit, in der Diktatoren und Oligarchen auf der ganzen Welt bereits den Abgesang auf die freiheitlichen Demokratien propagieren und umsetzen, ist es wichtig, dass die Bürger durch ihre Teilnahme an der Wahl eine klare Botschaft senden. Trotz allem Frust und mancher Verärgerung.
Die bleiben einem auch in einer Demokratie nun einmal nicht erspart. Das werden wir auch am Montag erleben, nicht nur bei den unterschiedlichen Bewertungen der Ergebnisse. Aller Voraussicht nach wird es auch eine Debatte über das von der Ampel umgesetzte neue Wahlrecht geben, dass teilweise von Bundesverfassungsgericht einkassiert wurde. Geblieben ist die Regel, dass es keine Ausgleichsmandate mehr gibt. Das hat zur Folge, dass einem Kandidaten das Bundestagsmandat verweigert werden kann, obwohl er in seinem Wahlkreis direkt gewählt wurde. Wie will man das wohl den Bürgern erklären? Die Forderung, den aus alle Nähten platzenden Bundestag zu verkleinern, ist zweifellos richtig. Die Schwächung des Direktmandates ist aber ein untauglicher Weg. Die einzige vernünftige Lösung den Bundestag zu verkleinern wäre es, die Wahlkreise zu vergrößern, auch wenn das für Einzelne schmerzlich ist.
Dennoch sollte das alles niemanden von der Wahl abhalten. Wählen zu gehen ist eine Ehrenpflicht. Dafür haben viele gekämpft und gelitten. Dieses Grundrecht wirft man nicht einfach weg.
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Zwischenrufer heißt unsere Kolumne, in der Dieter Schreier einen Blick auf das Hanauer Stadtgeschehen oder allgemeine Themen wirft. Der gelernte Journalist hat viele Jahre als Redaktionsleiter, Chefredakteur und Geschäftsführer bei Institutionen und Zeitungsverlagen in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Thüringen und Hessen gearbeitet und ist heute als Medienberater und in der Journalisten-Weiterbildung aktiv. In Hanau ist er seit mehr als 25 Jahren präsent.