11/03/2024
BOTSCHAFT ZUM WELTTHEATERTAG 2024
von Jon Fosse, Norwegen
Kunst ist Frieden
Jeder Mensch für sich ist einzigartig, und doch ist er allen anderen Menschen gleich. Das Einzigartige ist äußerlich und man kann es sehen, so weit, so gut, doch gibt es in jedem einzelnen Menschen auch etwas, das nur diesem Menschen zugehört, das dieser Mensch ist. Wir könnten es Seele nennen, oder Geist – oder wir brauchen dem nicht unbedingt einen Namen zu geben, lassen wir es einfach, wo es ist.
Wir sind zwar verschieden, dabei einander aber auch gleich. Menschen aus allen Teilen der Welt sind einander im Wesentlichen gleich, ohne Ansehen unserer Sprache, unserer Hautfarbe, unserer Haarfarbe.
Es ist vielleicht ein Paradox, dass wir sowohl gleich als auch verschieden sind. Und vielleicht ist der Mensch paradox in seiner Spannung zwischen Körper und Seele, zwischen dem, was ganz und gar im Materiellen, Immanenten verwurzelt ist, und dem, was die materiellen Bindungen und Begrenzungen transzendiert.
Der Kunst aber, guter Kunst, gelingt es auf ihre wundersame Weise, das ganz und gar Einzigartige und das Universelle miteinander zu vereinen, ja, sie kann bewirken, dass das Einzigartige, man kann auch sagen, das Fremde, universell verstanden wird. Sie sprengt auf ihre Weise die Grenzen zwischen Sprachen, Ländern, Erdteilen. So gesehen führt sie nicht nur das zusammen, was einzelne Menschen prägt und ausmacht, sondern auch, in einer anderen Bedeutung, dasjenige, was Gruppen von Menschen prägt und ausmacht, zum Beispiel Nationen.
Und dies bewerkstelligen die Künste eben nicht dadurch, dass sie alles gleich machen, sondern im Gegenteil die Ungleichheiten herausstellen, ja, das Fremde, das, was man nicht ganz begreift und dennoch auf gewisse Weise begreift, das Enigmatische könnte man es vielleicht nennen, etwas, das fasziniert, ja, das die Transzendenz erschafft, die Überschreitung, die aller Kunst innewohnen muss, als Essenz, aber auch als Ziel.
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Eine bessere Weise, Gegensätze zu vereinen, kann ich mir nicht vorstellen. Das ist das genaue Gegenstück zum gewaltsamen Konflikt, wie wir ihn so allzu oft sich entfalten sehen dank der destruktiven Versuchung, das Fremde zu zerstören, das einzigartig Andere, oft unter Einsatz bestialischer technologischer Neuerungen. Das ist Terror. Das ist Krieg. Denn der Mensch hat auch eine animalische Seite, eine instinktgetriebene, die das Andere, das Fremde, nicht als etwas faszinierend Enigmatisches erlebt, sondern als Bedrohung der eigenen Existenz. Und dann verschwindet das Einzigartige, das Verschiedenartige, das universell verständlich ist, und wird zu einer kollektiven Gleichheit, in der alles Andersartige eine Bedrohung ist und zunichte gemacht werden soll. Was äußerlich gesehen Verschiedenheiten sind, beispielsweise zwischen Religionen oder politischen Ideologien, wird bekämpft und vernichtet.
Krieg ist Kampf gegen das Innerste des Menschen, gegen das Einzigartige. Und er ist Kampf gegen alle Kunst, gegen das Innerste jeglicher Kunst.
Ich habe mich dafür entschieden, hier allgemein von den Künsten zu sprechen, nicht speziell von der Theaterkunst, da alle gute Kunst, wiederum in ihrem Innersten, um dasselbe kreist: darum, das ganz und gar Einzigartige, das ganz Eigene, universell werden zu lassen. Sie vereint in ihrem künstlerischen Ausdruck das Einzigartige und das Universelle. Nicht, indem sie Eigenarten entfernt, sondern indem sie sie hervorhebt, indem sie das Fremde deutlich sichtbar macht.
Es ist ganz einfach so: Krieg und Kunst sind Gegensätze, sowie Krieg und Frieden Gegensätze sind. Kunst ist Frieden.
Jon Fosse
- Aus dem Norwegischen (Nynorsk) von Hinrich Schmidt-Henkel -
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Welttheatertag 2024
BIOGRAFIE VON JON FOSSE
Schriftsteller, Dramatiker, Literaturnobelpreisträger
Jon Fosse, geboren 1959 in der norwegischen Küstenstadt Haugesund, gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller unserer Zeit. Sein Werk umfasst Theaterstücke, Romane, Gedichtsammlungen, Essays, Kinderbücher und Übersetzungen. Fosses Schreibstil zeichnet sich durch Minimalismus und emotionale Tiefe aus und macht ihn zu einem der meistgespielten Theaterautoren der Welt. Im Jahr 2023 erhielt er den Nobelpreis für Literatur für seine Stücke und Prosa, die dem Unsagbaren eine Stimme geben.
Fosses Werk wurde in über fünfzig Sprachen übersetzt und weltweit auf mehr als tausend Bühnen aufgeführt. Seine minimalistischen und introspektiven Bühnenstücke, die oft an lyrische Prosa und Poesie grenzen, setzen Henrik Ibsens im 19. Jahrhundert begründete dramatische Tradition fort. Fosses Werk wird mit dem postdramatischen Theater in Verbindung gebracht, und seine Romane wurden aufgrund ihres Minimalismus, ihrer Lyrik und ihrer unkonventionellen Syntax als postmodernistisch und avantgardistisch bezeichnet.
Als Dramatiker erlangte Fosse mit seinem Stück "Nokon kjem til å komme" (1996; "Someone Is Going to Come", 2002), das für seine radikale Reduktion der Sprache und den kraftvollen Ausdruck menschlicher Gefühle bekannt ist, internationale Anerkennung. Inspiriert von Künstlern wie Samuel Beckett und Thomas Bernhard, verbindet Fosse lokale Bezüge mit modernistischen Techniken. Seine Werke zeigen die Unsicherheiten und Verletzlichkeiten menschlicher Erfahrungen ohne nihilistische Verachtung.
In seinen Bühnenstücken lässt Fosse oft Worte oder Handlungen unvollständig, was ein Gefühl der ungelösten Spannung erzeugt. Themen wie Unsicherheit und Angst werden in Arbeiten wie "Natta syng sine songar" (1998; "Nightsongs", 2002) und "Dødsvariasjonar" (2002; "Death Variations", 2004) erforscht. Fosses Mut, sich mit den Ängsten des Alltags auseinanderzusetzen, hat zu seiner breiten Anerkennung beigetragen.
Fosses Romane wie "Morgon og kveld" (2000; "Morgen und Abend", 2015) und "Det er Ales" (2004; "Aliss at the Fire", 2010) zeigen seine einzigartige Sprache, die von Pausen, Unterbrechungen, Negationen und Fragen geprägt ist. Die Trilogie "Trilogien" (2016) und die Septologie "Det andre namnet" (2019; "The Other Name", 2020) sind weitere Beispiele für Fosses Auseinandersetzung mit Liebe, Gewalt, Tod und Versöhnung.
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Fosses Verwendung von Bildern und Symbolen wird in seinen poetischen Werken deutlich, darunter "Sterk vind" (2021) und sein Gedichtband "Dikt i samling" (2021). Er hat auch Werke von Georg Trakl und Rainer Maria Rilke ins Nynorsk übersetzt.
Jon Fosse beschäftigt sich in seinen Werken mit der Essenz des menschlichen Daseins, mit Themen wie Unsicherheit, Angst, Liebe und Verlust. Mit seinem einzigartigen Schreibstil und seiner tiefgründigen Auseinandersetzung mit alltäglichen Situationen hat er sich als eine der wichtigsten Figuren der zeitgenössischen Literatur und des Theaters etabliert.
Text via ITI Zentrum Deutschland