15/01/2025
»Heute Morgen herrscht wieder diese stickige, nun vom Tageslicht gehärtete Hitze, die einem die Kehle austrocknet und das Herz zum Rasen bringt. Ich stehe auf, aus alter Gewohnheit. Draußen lasse ich mich von meinen Beinen durch Straßen führen, die ich schon lange nicht mehr kenne, nachdem ich sie tagtäglich abgegangen bin, ich komme am gelb gestrichenen Eckcafé vorbei, wo Männer unter großen roten Sonnenschirmen ihrem Schweiß Nahrung geben, ich steige die Stufen zum unterirdischen Reich hinab, das die Lebenden den Toten geraubt haben und das sie mit ihren hastigen Schritten, ihren Rempeleien, ihren Stimmen bevölkern, die vom Lärm immer wieder ins Nirgendwo aufbrechender Züge zerfetzt werden, genau dort, wo Ruhe und Frieden herrschen sollten für diejenigen, die endlich angekommen sind.«
Ziellos treibt Maria durch die Großstadt. Der Krieg liegt erst wenige Jahre zurück, doch die Welt hat sich weiterbewegt. Allein ihr Alltag ist bevölkert von Spuk- und Traumgestalten, den Toten ihrer ermordeten Familie – neben denen sich die Lebenden selbst in geisterhafte Erscheinungen verwandeln.
Anna Langfus (1920–1966) war eine der ersten jüdischen Überlebenden des Holocaust, die ihre Erlebnisse fiktional verarbeiteten. In ihrem zweiten Roman »Gepäck aus Sand«, für den sie 1962 den renommierten Prix Goncourt erhielt, erzählt sie von der Unmöglichkeit, der Vergangenheit zu entfliehen, vom verzweifelten Versuch, sich in der Welt zurechtzufinden und behaust zu fühlen.
Mehr zur Übersetzung und Rezeption von Anna Langfus erzählt die Übersetzerin Patricia Klobusiczky auf der TOLEDO-Webseite des deutschen Übersetzerfonds und auf unserer Homepage.