17/10/2023
Das dröhnende Schweigen
Schriftsteller Jürg Halter über die fehlende Solidarität mit Jüdinnen und Juden nach dem Terror in Israel.
Jürg Halter*
Es ist beschämend, das dröhnende Schweigen nach dem bestialischen Massenmord der islamistischen Hamas in Israel – das Schweigen zahlreicher derer, die sich sonst öffentlich stetig gegen Unmenschlichkeit aussprechen. Es ist beängstigend zu sehen, wie der israelbezogene Antisemitismus, die perfide, nicht offen ausgesprochene Form von Antisemitismus, dieser Tage mal wieder überall augenfällig wird; gerade auch bei vielen Menschen, die sonst immer von der Wichtigkeit von «Solidarität» und «Antirassismus» reden. Ja, es ist geradezu schockierend mitzubekommen, wie viele bekennende Antirassistinnen und Antirassisten sich diese Tage schamlos als Rassistinnen und Rassisten offenbaren.
Noch schockierender sind all die Menschen in westlichen Grossstädten, die den Massenmord an unschuldigen Zivilisten in Israel frenetisch feierten und zur Vernichtung Israels aufriefen. An manchen Demos waren «Scheiss Juden!»-Rufe zu vernehmen. Und etwa in Berlin wurden jüdische Gegendemonstrantinnen gar als «Nazis» niedergebrüllt. Geschichtsvergessenheit in Reinform. Einen Massenmord als Befreiungskampf feiern, das ist unmenschlich, demokratiefeindlich, herzlos.
Der Grossteil dieser Menschen, die das Hinrichten von unschuldigen Kindern, Frauen und Männern feierten, waren radikale Muslimas und Muslime, die den Westen, die unsere sogenannten Werte, die wir oft genug selbst pervertieren, komplett ablehnen – aber gerne davon profitieren. Diese Menschen leben in einer islamistisch geprägten medialen Parallelwelt. Verdrängt oder vergessen von der hiesigen Politik.
Die privilegierte Linke als Teil des Problems
Was die Tage also auch wieder schmerzhaft sichtbar wird: Viele gebildete, privilegierte Linke sind Teil dieses Problems, denn durch ihr antiaufklärerisches, strukturelles Verharmlosen des radikalen Islam wird der Islamismus seit Jahrzehnten auch bei uns in Europa legitimiert und stärker – obwohl gerade Linke und ihr Einstehen für Diversität unter islamistischer Herrschaft zuerst vernichtet würden. Die Islamismusverharmlosung gehört seit jeher zur DNA eines einflussreichen Teils der Linken. Aber nützliche Idioten merken nie, dass sie nützliche Idioten sind – Ideologie macht blind. Das sieht man auch bei denjenigen prominenten Feministinnen, die sich sonst bei noch so kleinen Regungen toxischer Männlichkeit immer öffentlich melden, aber plötzlich verstummten, nachdem die islamistische Hamas in Israel gezielt unzählige Frauen und Mädchen vergewaltigt und dann ermordet hatte: Wie kann man so selbstverlogen sein? Und wie kann man gleichzeitig antirassistisch, intersektional-feministisch, q***r und antisemitisch, islamismusblind, diversitätsfeindlich sein? Wie kann man sich selbst nur strukturell und empathisch so widersprechen? Was für eine multiple, theoretische Gehirnwäsche muss man hinter sich haben, um so zu ticken? Haben solche Selektiv-Feministinnen Critical Post Human Rights Theory in Teheran oder Doha studiert?
Was diese Tage auch einmal mehr schmerzhaft sichtbar wird: Jüdinnen und Juden bleiben weltweit das Feindbild Nummer eins. Israel ist und bleibt das meistgefährdete und meistbedrohte Land der Welt. Fast überall auf der Welt müssen jüdische Schulen, Kindergärten, jüdische Institutionen überhaupt, von der Polizei bewacht werden, weil sie ständig unter Bedrohung stehen; von Islamisten und Rechtsextremen. Diese Tage und wohl in Zukunft noch mehr als zuvor.
Was hier noch zu wenigen bewusst ist: Der bestialische Angriff auf Israel war auch ein Angriff auf die freie Welt, also auf uns alle. So wie es in den letzten Jahren auch die islamistischen Terroranschläge in Paris, Brüssel, London, Berlin, Manchester, Strasbourg, Barcelona, Stockholm, Wien, Nizza und so weiter waren. Das erklärte Ziel aller Islamisten: die Weltherrschaft.
Wenn es die Politik mit ihrem aktuellen pathetischen, wiederholten Solidaritätsgeschwätz wirklich ernst meinte, würde sie zuerst endlich hiesige islamistische, antisemitische Organisationen konsequent verbieten und die Geldströme, die ihnen zufliessen, stoppen. Mit einem Hamas-Verbot alleine ist es noch lange nicht getan. Etwa die im Iran massenmordende Islamische Revolutionsgarde steht in der EU und auch bei uns noch immer nicht auf der Terrorliste, obwohl Exil-Iranerinnen und Exil-Iraner seit Jahren weltweit für ein Verbot demonstrieren. Der Einfluss des Terror-Financiers Katar in Europa wird immer grösser. Von den Salon-Islamisten ganz zu schweigen – das sind die, die auch die Hamas verharmlosen, während sie Israel und den Westen zum Teufel erklären. Nicht zuletzt reichweitenstark in den sogenannt sozialen Medien.
Was Politik und Gesellschaft auch endlich wirklich begreifen müssen: Will es den in Europa seit Jahren erstarkenden Rechtsextremismus entscheidend schwächen, muss man auch entschieden gegen den Islamismus vorgehen, gerade auch zum Schutze aller hier lebenden, vor Islamisten geflohenen, demokratisch gesinnten, säkularisierten Muslimas und Muslime. Der Rechtsextremismus und der Islamismus profitieren nicht nur voneinander, nein, sie sind geradezu wesensverwandt: Beide verachten die Demokratie, die Vielfalt, beide hassen alle Andersdenkenden, beide sind absolut patriarchalisch, also frauen-und homosexuellenfeindlich, beide wollen die Abschaffung der Gewaltteilung, beide streben die alleinige Herrschaft an.
Kurz: Beide wollen das Ende all unserer Freiheiten und Rechte. Und ich glaube, niemand, der diese Zeilen hier liest, will das. Also, wir müssen wieder lernen, die Freiheit, die aufrichtige Vielfalt und die Demokratie zu verteidigen. Und das heisst, auch laut und deutlich dafür einzustehen. Und zwar gegen alle Feinde der Demokratie, der aufrichtigen Vielfalt und der Freiheit.
* Der Schriftsteller, Spoken Word Artist und Künstler lebt in Bern.
Aargauer Zeitung 17.10.2023