23/12/2022
Merry Christmas
Bellerophon Jahresrückblick 2022
Cookin‘ with Bellerophon - Folge 5832
Guten Abend allerseits. The same procedure as every year, Jean? Aber sicher! Der
Rückblick auf das vergangene Geschäftsjahr ist nicht mehr Tradition, sondern längst Brauchtum, also spare ich mir lange Vorreden!
Nur eines noch: Zwanzigdreiundzwanzig, wie modern das klingt! In „Bladerunner“ flogen 2019 schon die Autos. Heute, fast vier Jahre später, wird man auf der Merowingerstrasse mit Tempo 43 geblitzt. Die Zukunft ist wohl doch nur eine Illusion. Auf keinen Fall ist sie ein Hollywood-Drehbuch!
Nun aber zum Thema: Nachdem ich mich rund zwei Jahre lang mit einem „ringing-ear-syndrome“ herumgeschlagen habe, geht es inzwischen deutlich besser. Die Zusammenarbeit mit Mark Swordfish ist insofern nur aufgeschoben, wird aber im neuen Jahr zum Tragen kommen. Ach davon hatte ich noch nichts erzählt? Ein andermal.
Seit die Pandemie die Musikbranche quält, und Subkultur beziehungsweise Underground faktisch gekillt hat, ist es auch mit Rommerskirchens bedeutendstem Plattenlabel nicht wirklich bergauf gegangen. In meiner finanzwirtschaftlichen Karriere benannte man stumpfe Stagnation gerne euphemistisch mit „Seitwärtsentwicklung“. Das klingt besser als: „im abgeschlossenen Jahr ging die ganze Grütze den Bach runter.“ Da sage jemand, wir Banker hätten keine Phantasie!
Für Bellerophon muss ich die Botschaft allerdings inhaltlich bestätigen. Genaugenommen muss es heißen „Seitwärts, aber mit leichtem Gefälle in einen infernalen Abgrund.“ Statt der üblichen 10-12 Veröffentlichungen haben wir pandemiebedingt zum dritten Mal in Folge lediglich drei Releases zu verzeichnen.
Die hatten es allerdings in sich.
Der Petunienmann von Metaluna Vier brachte am 4.2.2022 den vierten Teil der fünfteiliegen „Planet-Earth-Trilogy“ heraus. Der Blumenfreund steckte mir, dass auf dem Exo-Planeten Metaluna 4 sämtliche Trilogien aus fünf Teilen bestehen. Wer sind wir bei Bellerophon, das anzuzweifeln? „Cosmic Pedestrian“ hieß dieser feine vierte Teil, der mit Unterstützung meines großartigen Mentors Archie Patterson aus Portland/USA entstand. Der Albumtitel geht auf einen Vorschlag von Chi Ming Lai vom Electricity Club zurück. Eine wahrhaftig transatlantische Kombination!
Cosmic Pedestrian erschien digital, zudem bei Streaming-Portalen und als CD, und ist die erste Platte nach unserem firmenseitig ausgesprochenen Vinyl-Moratorium. Ja, das ist die traurige Wahrheit. Wir werden künftig keine Schallplatten mehr machen. Die Gründe sind vielschichtig. Zum einen hat unser langjähriger Partner Filght 13 Duplication aufgegeben. Das war ein harter Schlag, und nachdem uns Björn Bieber die gesammelten Pressmatritzen ausgehändigt hatte war mir klar, es ist an der Zeit „to call it a day!“
Doch das ist nicht alles:
Die Herstellungskosten bedingen inzwischen Verkaufspreise, zu denen Kunden mit klarem Verstand nicht mehr einkaufen können.
Zumindest gilt das für unsere Kleinstauflagen. 30 Euro wollen wir für unsere Preziosen schlichtweg nicht aufrufen. Das ist – Verzeihung – bescheuert. Die Mondpreise überlassen wir den „Big Playern“. Sollen die doch für eine Neil Young „Harvest“ Box 150 Euro fordern! Ich frage mich, wie junge Musikfans ohne reiche Eltern sich so etwas leisten sollen?
Wie dem auch sei, im November haben wir das großartige Album „The Gemini Trash“ von Schallmauer-Gründer Lothar Surey gleich völlig digital rausgehauen. Lothar ist mit seiner Musik ein großer Wurf gelungen, und mit dem kongenialen Album-Artwork unseres Großmeisters Patrick Keuthen hat er ein Package am Start, welches wir sogar bei den elektronik-Experten von beatport unterbringen konnten. Menschen mit einem Schlag für solche Sounds wird The Gemini Trash restlos begeistern.
Kurz vor dem Schlussgong habe ich am 6.12. gemeinsam mit meinem Freund Nico Bernard aus Nantes aus meinem blauen Palais nachgelegt.
Schon viele Male haben wir als Deutsch-Französische Freundschaft zusammengearbeitet. Gleichzeitig sind wir eine Art Generationenprojekt, denn Nico könnte glatt mein Sohn sein. Vielleicht ist die Zusammenarbeit auch deshalb so spannend für uns, jedenfalls lassen unsere unterschiedlichen Blickwinkel die Tracks kaleidoskopartig schillern.
Das empfinden zumindest Nico und ich so. Mit „Nico + Jean – From Nantes To Düsseldorf“ haben wir gleichzeitig unseren Homebases eine musikalische Hommage beschert. Die Songs stammen zwar aus meiner Feder, wurden aber im Duett völlig neu interpretiert. Das war ein ziemlicher Angang, und ich darf durchaus anerkennend feststellen, dass Nico den Löwenanteil der Arbeit erledigt hat.
Unser – neues – Lieblingsmedium, die Cassette, haben wir folgerichtig auch für dieses Album benutzt. In den vergangenen Jahren haben wir schon rund ein Dutzend dieser archaischen Tonträger herausgebracht. Eine Mikro-Nische in der hinteren Ecke der Nische sozusagen.
Immerhin war das Tape innerhalb von einer Woche ausverkauft und wir haben, anders als bei so mancher Vinyl-VÖ der Vergangenheit, zumindest nicht nur Geld gewechselt.
Digital läuft das Album sowohl bei Bellerophon als auch über das französische AWTIW Bandcamp. In Frankreich ist billiger. Kaufen Sie trotzdem bei uns! Wie immer können sie die Musik stattdessen für lau hören, indem sie die bekannten Streamingdienste bemühen. Wenn das nichts ist!
Neben meiner Arbeit im Label und an der Gitarre habe ich meinem neuen Faible gefrönt, dem Radio. Jürgen Meis aus Viersen hat mit seinem „Studio Nierswelle“ gleich mehrere interessante Formate am Start. Für „Yesterday“ und „Krautrock ist Deutsch“ habe ich in der jüngeren Vergangenheit einen Großteil der Interviews mit illustren Künstlern übernommen.
Thomas Olivier (Parzival) und Waldo Karpenkiel (Kollektiv, Supersession) gehörten ebenso zu meinen Talkpartnern wie Jim Gilmour (Saga), Peter Frampton und die Helden meiner Jugendtage, The Equals. Auch für 2023 haben wir einiges ausgeheckt und ich darf jetzt schon sagen, dass in dieser Beziehung große Ereignisse ihre Schatten bereits vorauswerfen.
Gleiches gilt auch für mein Buch Rockidylle, das in diesen Tagen fertig geworden ist. Die VÖ ist für 2023 geplant, doch schon im September durfte ich auf Einladung des feinen Gladbacher Künstlerkollektivs „Der Blaue Rheydter“ aus dem Manuskript lesen. Dabei hat mich der fabelhafte Steve Catran an der Gitarre begleitet. Das war ein schöner Event, und der Zuspruch des Publikums hat mich bestärkt, mit Hochdruck am Buch weiterzuarbeiten.
Dafür wird noch gesondert zu danken sein, für den Moment muss aber dringend Robert Coenen genannt werden, der mich beraten hat und auch Sebastian Meurer, der das Lektorat übernimmt.
Wer mich kennt weiß:
Meine Herzensangelegenheit ist und bleibt Das Blaue Palais. Musik aus Düsseldorf ist nun mal meine musikalische DNA und ich glaube, hier bin ich einfach am authentischsten. In der Pandemie ist es recht still um das Palais geworden, aber mit Nico + Jean gibt es inzwischen zumindest ein Lebenszeichen.
Back to the Roots geht es mit den Silverkrauts, und zwar recht regelmäßig im hauseigenen Tabernakel Tonstudio. Der Tod unseres Freundes Peter Schürmann vor einigen Jahren war gleichzeitig das Ende für unsere Art-Rockband Ümit! und den Post-Punk von The Orpheus Replica.
Eigentlich sollte es das für mich mit dem gerocke in Bands gewesen sein. Peter Schürmann, Peter Kirschbaum und ich waren so etwas wie The Holy Trinity of Dorfrock. Friends forever.
Dann lancierte Peter Kirschbaum eine Zusammenarbeit mit dem fabelhaften Matthias Istas und das Unerwartete trat ein: Wir hatten eine neue Band. Lotte, Peter, Mättes und ich sind seither die Silverkrauts, und man wird noch von uns hören. Sie denken, das klingt wie eine Drohung? Dann liegen sie richtig, es ist nämlich eine!
Ein kurzer Blick auf das Geschriebene lässt mich erschrecken. Das ist für moderne Aufmerksamkeitsspannen ein Text von epischer Länge! Ich greife deshalb zu einem Stilmittel des Filmgeschäfts, und nutze einen Cliffhanger:
Sie wollen wissen, wie es weitergeht bei ihrem Lieblingslabel Bellerophon, ihrem geschätzten Herrn Oberlack, dem feinen Radiosender Studio Nierswelle, den Silverkrauts und der Rockidylle?
Dann müssen sie bis zum 31.12. warten, dann kommt der Ausblick auf 2023 an gleicher Stelle!
Für den Moment wünsche ich allen Freunden des Labels ein schönes und hoffentlich musiktrunkenes Weihnachtsfest. Helau!
Ach quatsch – Frohe Weihnachten!
Herzlichst,
Jochen