13/06/2024
Viktor Orbán, die Europawahl und der Krieg
Was hinter Ungarns Blockadehaltung gegenüber EU und NATO steckt.
Aus Budapest Martin Fejér.
Schmutzig graue Buchstaben reihen sich formatfüllend auf, in jedem steckt ein anderes Gesicht. Zusammengesetzt ergeben sie das Wort „KRIEG“. Die Plakate überziehen das ganze Land, vor den Videos gibt es kein Entkommen. Die Gesichter sind die Köpfe der Oppositionsparteien, die von der Regierungspropaganda allesamt als Kriegstreiber dargestellt werden. Es gibt inzwischen eine Fortsetzung der Kampagne: In Blau ergibt sich das Wort „FRIEDEN“, mit nur einem Gesicht, dem von Ministerpräsident Viktor Orbán. Während andere darin sterben, nutzt er den Krieg zum Machterhalt.
In seiner Rede auf der Budapester Margareteninsel vor den aus dem ganzen Land herbeigeschafften Teilnehmern des Fidesz “Friedensmarsches” am vergangenen Samstag skizziert er seinen Weg zum Sieg: Ein Durchmarsch der Rechtspopulisten, vor allem von AfD und FPÖ, bei der Europawahl am kommenden Sonntag sowie ein Sieg Donald Trumps bei den US-Wahlen im November würde ihn innerhalb eines halben Jahres vom isolierten Schmuddelkind zum internationalen Superstar machen. Natürlich braucht er dazu auch einen überwältigenden Sieg seines Fidesz, daher der propagandistisch gnadenlose Wahlkampf, der die Seinigen zu “Friedensfreunden”, alle anderen zu “Kriegstreibern” erklärt.
Nun braucht niemand zu befürchten, Orbán wäre tatsächlich zum Pazifisten geworden, Ungarn hat gerade bei deutschen Rüstungsfirmen riesige Bestellungen laufen. Er hat lediglich bei der Parlamentswahl 2022 gelernt, wie gut sich das Thema Frieden einsetzen lässt. Jetzt kombiniert er geschickt die pro-russische Agenda seiner Regierung mit dem bei seinen Wählern häufig anzutreffenden anti-ukrainischen Sentiment. Sein Ruf nach einem sofortigen Verhandlungsfrieden dürfte im Effekt dem von Putin ähneln, egal wie sehr er dies abstreitet: Fürs erste Anerkennung der ansonsten völkerrechtswidrigen Eingliederung der Krim sowie der Oblaste Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk in die Russische Föderation, Umwandlung der Restukraine in einen halbsouveränen Vasallenstaat nach dem Muster Weißrusslands. Das Internetportal “Origo”, Teil des Propagandaapparats der Orbán-Regierung, spricht bereits ganz selbstverständlich von “Russlands neuen Regionen”.
Auch die Rhetorik von Außenminister Péter Szíjjártó wird von Tag zu Tag schriller. Am Montag dieser Woche ließ er verbreiten, die Friedensfreunde in der internationalen Politik würden inzwischen “physisch, juristisch und politisch gejagt”. Er dachte dabei an das Attentat auf den slowakischen Ministerpräsidenten Fico sowie an das Urteil im Schweigegeld-Prozess gegen Donald Trump. Mit Vorliebe berichtet er sodann von den beinahe tätlichen Auseinandersetzungen mit den Amtskollegen bei EU und NATO, wenn er einmal wieder “im nationalen Interesse” sein Veto gegen jede Form weiterer gemeinsamer Ukrainehilfen einlegt. Bei seinen täglichen Wahlkampfauftritten vor Fidesz-Anhängern im ganzen Land beschreibt er wieder und wieder die Sichtweise seiner Regierung: Bei dem Krieg handelt es sich um einen lokalen Konflikt zweier Nachbarländer. Russland hat dabei nur die Ukraine angegriffen und kein weiteres Land, vor allem aber nicht die EU oder die NATO. Die Ukrainer verteidigen daher auch nur sich selbst, nicht etwa uns oder gar die Demokratie oder die Freiheit. “Das ist nicht unser Krieg.” Die Westeuropäer und die Biden-Administration habe dagegen die Kriegspsychose ergriffen, jeden Tag gäbe es verrücktere Entscheidungen, es würde hemmungslos eskaliert und globalisiert. “Der Kriegszug rast auf die Endstation zu. Die Endstation ist der Dritte Weltkrieg. Nur bei der Wahl am 9. Juni können die Menschen noch die Notbremse ziehen!” Indem sie rechtsextreme Parteien wählten. Dass es gerade die übrigen mittelosteuropäischen Länder mit eigener Sowjeterfahrung sind, die vor Russlands weiteren Absichten warnen, beziehungsweise dass sich Russland selbst im Bündnis mit China, dem Iran und Nordkorea im Krieg gegen den Westen sieht, lässt Szíjjártó unerwähnt.
Dabei gibt es für Orbáns große Friedfertigkeit auch einen ganz banalen Grund. Die Energieversorgung Ungarns beruht zum großen Teil auf russischem Erdgas und russischen Brennelementen. Letzteres umso mehr, seit der russische Staatskonzern Rossatom im Januar 2014 den Auftrag erhielt, neben dem alten AKW Paks zwei neue Reaktoren zu errichten. Zwei Monate später annektierte Russland die Krim. Energiewende, Umwelt- oder Klimaschutz interessieren die Fidesz-Regierung nicht wirklich, Orbán schaffte bei seinem Amtsantritt 2010 als erstes das Umweltministerium ab. Abgesehen von einem eher planlosen Ausbau der Solarenergie geht es wie bei den meisten Rechtspopulisten in der Energiepolitik um ein trotziges Weiter-so. Die ständig steigenden Kosten für die Bevölkerung wurden 2013 durch die Einführung eines Preisdeckels neutralisiert. Diese sogenannte “Nebenkostensenkung” gehört seitdem zur DNA der Fidesz-Regierung, sie ist ihr propagandistisches A und O. Massive Fördergelder der EU zur energetischen Modernisierung des Wohnungsbestandes wurden entweder nicht abgerufen oder zweckentfremdet. Ausländische Energiekonzerne, ihrer Gewinnmöglichkeiten beraubt, verließen gewollt das Land, der Sektor wurde renationalisiert. Heute liegt das gesamte wirtschaftliche und politische Risiko beim Staat. Orbán weiß genau, dass er eine Rückkehr zu Marktpreisen innenpolitisch kaum überleben würde. Er sitzt in der Falle: Zum russischen Erdgas wurde keine rechte Alternative aufgebaut, und auch beim neuen AKW Paks 2, das ab den 2030-er Jahren die Hälfte der Stromversorgung übernehmen soll, zieht sich die Schlinge zu. Noch in diesem Jahr soll auf der Baustelle mit dem Gießen der Bodenplatte begonnen werden. Danach können dort auch rein technisch nur noch russische WWER-1200-Reaktoren errichtet werden, egal zu welchem Preis. Nur durch “billigen Atomstrom” können die “Errungenschaften der Nebenkostensenkung” bewahrt werden, heißt es ganz offiziell.
Orbán dürfte sich einfach verkalkuliert haben. Er hat sowohl die russische Brutalität als auch den Widerstand der Ukraine und des Westens unterschätzt. Die Krimbesetzung 2014 erweist sich als falsche politische Blaupause. Für ihn bleibt nur die Flucht nach vorne. Putin kann er sich nur andienen, beeinflussen kann er ihn nicht. Er muss EU und NATO dazu bringen, die Ukraine aufzugeben, sonst bleibt demnächst das Gas aus, und Paks 2 wird zur Bauruine. Ein Austritt aus den Bündnissen ist trotz aller Propaganda keine Option. Er würde Ungarn in Armut und Bedeutungslosigkeit stürzen und letztlich Russland ausliefern. Das weiß auch Orbán, und so erklärt er bei seiner Rede auf der Margareteninsel die einst nur müde belächelte Europawahl zur wohl wichtigsten Entscheidung überhaupt. Denn hier ginge es um Krieg und Frieden. Gerne sollen dem Publikum dabei Leo Tolstoi einfallen, die russische Hochkultur und die vergeblichen Kriege des Westens im östlichen Riesenreich.