01/02/2024
PHYSICAL
by Julia Malik
Ich kann kaum etwas erkennen, weil die Abendsonne sticht, obwohl es fast noch Winter ist. Blake hatte recht, da zieht sich was zusammen. Das geht schneller, als man denkt, hat er gesagt. Ich habe nicht genau zugehört, weil ich nur auf seine Hände geachtet hab und dachte, wo kann es schon hinführen? Es ist auf einmal da, sagte er. Von einer Sekunde auf die andere. Der Wind brüllt auf dem Steg, zu dem ich geflohen bin, vielleicht, um zu rauchen. Wie kalt es plötzlich ist. Das Feuerzeug will nicht. Und ich will zurück, dringend unbedingt jetzt sofort, aber vielleicht sollte ich lieber nicht. Die Frage, was ich will. Es liegt nicht in meiner Hand. Er konnte nicht eine Sekunde wegschauen. Ich konnte den Abend nicht erwarten. Trotzdem. Ich führe schon ein Leben, was soll ich in parallelen Welten. Ich will schon, aber anders. Das Messer noch in seiner Hand. Er hatte gerade Knoblauch geschnitten, als ich klopfte. Ich würde seine Hände festhalten. Die Frage, was man loslassen kann? Das geht schneller, als man denkt. Moment, aber für mich wackelt da ein Kopf auf den Wellen. Entschuldigung, sind das nicht Schreie? Das Wasser schlägt mit Wucht gegen die Klippen, um mich her fliegt Schaum durch die Luft, und weit draußen sehe ich Arme, die mir zuwinken, Arme an einem Kopf, der verschwindet, und wieder auftaucht, was soll das? Das Ding schiebt sich nass und dunkel aus dem Wasser. Merkt Blake, dass der Wind an seinem Bus rüttelt? Die Luftmasse schiebt mich zur Seite, wie einen Rollkoffer. Ich suche nach dem Kopf. Als ich ihn wieder sehe, schlägt der Wind mich auf den Boden, als hätte ich etwas Verbotenes getan, oder sei ihm schon lange lästig. Ich also am Rand des Steges, auf meinen Knien. Direkt unter mir müht sich ein Motorboot ab, das auf der Stelle galoppiert, es schnauft und stöhnt. Ich könnte zurücklaufen, aber bis ich jemanden geholt habe, ist es vielleicht schon zu spät. Ich greife nach dem Seil. Es ist voll Moos und Algen, und glitscht mir dauernd aus den Händen, aber irgendwie schaffe ich es, den Knoten zu lösen. Das Boot macht einen Satz. Wo kommt der Sturm her? Er ist auf einmal da. Von einer Sekunde auf die andere. Eben, als ich raus bin, war da noch nichts. Als die Sonne gestochen hat. Da hat sich was zusammengezogen. Ich springe. Das Boot ist in der Hand der Wellen. Ich versuche mich am Starter. Er reagiert nicht, dafür braucht man einen Schlüssel. Ich krieg ihn nicht an. Wie kann man ohne Motor lenken? Ich kann es nicht. Ich versuche mich aufzurichten, Wind und Wasser schlagen mir ins Gesicht, ich sehe nichts, drehe mich um, will zurück, was für eine lächerliche Mission, aber das Boot drängt raus. Es liegt nicht in meiner Hand. Ich sehe hinter mir den Steg, der rauf und runter schwankt, oder bin ich das?, und dann kommt Blake angerannt, er schreit, aber ich bin zu weit draußen, um ihn zu verstehen. Er winkt. Ich denke, dass er Angst um mich hat, und das hätte ich auch, merke ich, um ihn, aber dazu komme ich nicht mehr. Der Boot neigt sich und ich muss mich festhalten, und als ich das nächste Mal schaue, hängt der Steg leer über den Wellen, die hochspringen und anfangen, ihn zu fressen. Der Wind sticht, im Schiff steigt das Wasser, in meinen Augen auch, so kann ich den Kopf zwischen den Wellen nicht finden. Nur diese kleine Erhöhung, ein Schweif, sind es hoch gepeitschte Haare? Oder ein Teil des Schädels? Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Ich erkenne den Kopf, er kämpft, schnappt nach Luft, da ist ein Mund, der aufreißt, schreit. Ich höre nur das Meer. Der Kopf verschwindet. Im nächsten Augenblick schleudern Arme nach oben. In dieser Sekunde, -ich kann keine Zeit verlieren, ich muss entscheiden,- stoße ich mich ab, lasse mich fallen, auf die Seite, vom Boot. Ich erschrecke. Eiskalt. Das Wasser packt mich und zieht mich raus. Ich versuche zu kraulen. Der Phasenübergang von der flüssigen in die feste Struktur, hatte ich gestern zu Blake gesagt, als er mir Eiswürfel in den Martini getan hat. Vielleicht wollte ich angeben. Es sei durchaus möglich, Flüssigkeit eine Weile unter null abzukühlen, ohne dass sie erfriere. Bei der geringsten Störung allerdings erstarre die unterkühlte Flüssigkeit schlagartig. Ich muss mich beeilen, bevor sie erfriert. Die Wirbelsäule sticht. Die Fingerspitzen glimmen. Ich schwimme weiter, schnell, bin ich schnell genug, schneller als man denkt? Ich versuche, etwas zu sehen. Das Wasser ist silberschwarz. Ich gerate in eine Strömung, die Kälte verengt mich, ich komme nicht dagegen an. Einsamkeit, sagt mein Kopf, Nullenergie. Die Bewegung meiner Gedanken gleicht sich der Struktur des Wassers an. Eiskristalle. Beweg dich, gegen die Lähmung, weiter, immer weiter, was solls? Ich ringe nach Luft. Schreie. Ich brauche Überblick! Ich kann diesen Kopf nicht finden, wo ist sie denn? Ich tauche. Taste in die dunkle Masse. Ununterbrochen schweben Teilchen rum. Die Knochen sind eisig, kann die Hände nicht mehr bewegen. Da ist nichts. Mein Mund reißt noch einmal auf, will Luft, bevor ich tiefer sinke. Silberne Fische. Klitzeklein. Glitzern. Seegras schwankt hin und her. Psychedelisch. Schönheit. Es ist auf einmal da. Die Hitze beißt, ich merke, wie sie mich versengt. Von einer Sekunde auf die andere. Wahrscheinlich sollte ich hochkommen, denke ich kurz, aber ich hab vergessen, warum. Es liegt nicht in meiner Hand. Es geht mir gut hier. Besser als sonst jedenfalls. Abgesehen davon schaffe ich es ohnehin nicht mehr. Ich will es gerne abgeben. Lasse die Arme sinken, die glimmenden Stacheln betäuben mich, zerteilen die Körperteile, die nichts mehr mit mir zu tun haben. Unendliche Partikel. Die feste Struktur löst sich auf, bildet symmetrische Formen. Die Schwerelosigkeit ist leichter, als ich dachte. Endlich da. Ich kann es kaum erwarten, behutsam vom Sand überspült zu werden, den Boden sich über mich legen zu spüren, dünne Schichten, die mich bedecken, mich zurücknehmen. Als Blake und sein Nachbar mich aus dem Wasser ziehen, ist da kein Gefühl, nicht im Körper. Ich bin woanders. In ihrem Boot knüpft die Erinnerung sich lose an das Davor. Blake wickelt mich sofort in eine goldene Decke. Presst ein Handtuch um meinen Kopf. Er legt seine Hände um mein Gesicht, ich beginne, ihn zu spüren. „Wo ist sie?“, ist das Einzige, das ich in Teilen hervorbringe. Dazwischen huste ich. Der Nachbar rudert ehrgeizig. Das Ufer kommt näher. Haben sie mich nicht gehört? Der Nachbar keucht, „Mensch, Schnecke. Kein einziges Boot aufm Wasser und du willst mit der Jolle raus, wirklich? Weil er für dich kochen wollte? Was machst du beim Heiratsantrag? Atlantiküberquerung?“ Blake rubbelt meine Beine. Und dann, als ob es die Erklärung für etwas wäre, das er nicht verstanden hätte, flüstert er, „du warst richtig weg.“ Ich suche das Wasser ab, die Oberfläche erinnert mich an das raue Schleifpapier, das ich über das Holz in meiner Küche gezogen habe, um es zu glätten. Wie stolz ich war, als es so weich wie die Haut an meinen Oberschenkeln geworden ist. Kleine raue Wellen, und schon streicht der Wind sie glatt. Wind ist die Bewegung der Luft, die versucht, unterschiedlichen Druck auszugleichen, werde ich Blake erklären, dabei wird kinetische Energie erzeugt, die Kraft abbaut, wenn sie auf starre Hindernisse wirkt. „Wo ist sie?“, schafft es meine Stimme endlich, Worte in Lautstärke zu greifen. Sie schauen mich an. „Habt ihr sie?“ „Rachel, hier ist kein Mensch. Da war auch keiner. Und kein Schiff. Vielleicht war dein Kopf eine Boje, die irgendein Witzbold abgeschnitten hat.“ Gleich sind wir am Ufer. Ihre Stimmen sind laut. Es war still dort unten, das Seegras bewegte sich sehr behutsam. Blake hebt mich auf den Steg. Ich schaue aufs Meer, das wieder sanft daliegt. Von einer Sekunde auf die andere. Ich habe den Kopf gesehen. Er war eben schneller. Das Boot, das ich benutzt hatte, ist inzwischen mit Wasser vollgelaufen. Es kreiselt um die eigene Achse, spritzt, als schlage es mit den Flügeln, dann ist es verschwunden.