13/07/2024
Rubrik: Wirtschaft
(dpa/ NZZ/ Reuter) Abpfiff beim Fussball, Anpfiff bei der Deutschen Bahn: Was mit der Generalsanierung auf Reisende zukommt
Nach jahrelanger Vernachlässigung der deutschen Schieneninfrastruktur beginnt am Montag eine beispiellose Generalsanierung. Es ist eine Operation am offenen Herzen mit ungewissem Ausgang.
Deutsche Bahnreisende wissen es seit langem, während der Fussball-EM haben es auch ungläubig staunende ausländische Besucher realisiert: Die Deutsche Bahn, die staatliche Bahn im Land der Ingenieure, ist chronisch unzuverlässig. Wer ein Fussballspiel in einer anderen Stadt sehen oder irgendeinen anderen Termin per Bahn verbindlich erreichen will, muss Reservezeit einplanen. Viel Zeit.
«Zu alt, zu voll, zu kaputt»
Nur 63,1 Prozent der Fernzüge haben im Mai ihr Ziel pünktlich erreicht, obwohl auch eine Verspätung von unter 6 Minuten noch als pünktlich gezählt wird. Im Juni, für den noch keine offiziellen Daten vorliegen, soll die Quote laut einem Bericht der «Bild»-Zeitung unwetterbedingt gar auf 52,5 Prozent abgesackt sein. 63 Prozent entsprechen ungefähr dem Durchschnittswert der beiden Vorjahre, während es zuvor wenigstens noch für Werte um die 75 Prozent gereicht hat. Im Pandemiejahr 2020 waren es dank dünnem Verkehr sogar über 80 Prozent. Nicht eingerechnet sind in diesen Zahlen jene nicht seltenen Züge, die ganz ausfallen. Entsprechend überfüllt sind dann die folgenden Verbindungen.
Jeder dritte Zug ist unpünktlich
All das weiss auch die Bahn. «Zu voll, zu alt, zu kaputt», so fasst Berthold Huber, im Vorstand der Deutschen Bahn (DB) für Infrastruktur zuständig, den Zustand der Bahninfrastruktur bei jeder Gelegenheit zusammen. Die Alterung des Netzes schreite schneller voran, als man durch Erneuerung ausgleichen könne, erklärte er letztes Jahr der «Süddeutschen Zeitung». Als nach Corona die Fahrgäste zurückgekommen seien und man noch einmal mehr Züge gefahren habe, sei «ein Kipppunkt erreicht» worden. Die Überlastung und die Störanfälligkeit des Schienennetzes gelten als eine Hauptursache für die Verspätungen.
Pilotprojekt Riedbahn
Nun soll genau hier angesetzt werden: Ist am Sonntagabend der Schlusspfiff im EM-Finale gefallen, beginnt am Montagabend die sogenannte Generalsanierung der Riedbahn, einer rund 70 Kilometer langen Strecke zwischen Frankfurt und Mannheim. Es ist der Auftakt und das Pilotprojekt für die Sanierung von insgesamt 40 Strecken, die bis 2030 dauern soll und die der Bahnchef Richard Lutz und der liberale Verkehrsminister Volker Wissing im Juni 2022 gemeinsam angekündigt haben.
Mit der Riedbahn begonnen wird dieses Mammutprojekt, weil sie infolge ihrer zentralen Lage eines der wichtigsten Nadelöhre im ganzen Streckennetz ist. Pro Tag verkehren hier laut DB-Angaben mehr als 300 Züge im Regional-, Fern- und Güterverkehr. Jeder siebte Zug im DB-Fernverkehr fährt über diese Geleise, bis zu 16 000 Passagiere pro Tag nutzen die Strecke im Regionalverkehr. Hier entstandene Verspätungen haben Auswirkungen auf den gesamten Bahnverkehr in Deutschland.
Nadelöhr Riedbahn
Die Strecke Frankfurt–Mannheim (rot) wird für die Generalsanierung während 5 Monaten gesperrt.
Zur Sanierung wird ein völlig neuer Ansatz verfolgt: Statt «unter dem rollenden Rad» immer wieder einzelne Bauarbeiten durchzuführen, wird die Riedbahn vom 15. Juli, 23 Uhr, bis 15. Dezember, 24 Uhr, also während fünf Monaten, ganz für den Verkehr gesperrt. Während dieser Zeit sollen laut Angaben der DB gebündelt 117 Kilometer Geleise, rund 150 Weichen und 140 Kilometer Oberleitungen erneuert, 20 Bahnhöfe modernisiert, mehr als 15 Kilometer Lärmschutzwände erneuert oder neu errichtet sowie eine neue Sicherungs- und Leittechnik mit elektronischen Stellwerken installiert werden.
Das Vorhaben ist mit einer Vielzahl beteiligter Firmen minuziös vorbereitet worden. Schon vom 1. bis 22. Januar war die Strecke im Rahmen der Vorbereitungsarbeiten und als eine Art Generalprobe ein erstes Mal gesperrt. Fern- und Güterzüge werden während der Sperrung ab Mitte Juli über Ausweichstrecken umgeleitet, ein Drittel des Fernverkehrsangebots der Riedbahn entfällt, für den Regionalverkehr gibt es einen Schienenersatzverkehr. Für Letztgenannten hat die DB 150 Überland- und Gelenkbusse angeschafft und rund 400 Fahrer angestellt. Angesichts des Fachkräftemangels rekrutierte sie diese nicht nur im Inland, sondern auch in 14 weiteren europäischen Ländern, von Polen über Kroatien bis Spanien. Zu ihrer Ausbildung gehören deshalb auch Deutschkurse.
Kur mit Nebenwirkungen
Infrastrukturbedingte Störungen könnten durch die Erneuerung aller überalterten Anlagen um mehr als 80 Prozent reduziert werden, verspricht die Bahn. Reisende und Güterverkehrsunternehmen würden deshalb von mehr Pünktlichkeit, aber auch von attraktiveren Bahnhöfen und einer leistungsfähigeren Infrastruktur profitieren. Zudem werde es auf einer generalsanierten Strecke «für Jahre» keine Baustellen mehr geben.
Aus betrieblicher Sicht der DB sei dieses Vorgehen die beste Lösung, sagt Alexander Eisenkopf, Professor für Wirtschafts- und Verkehrspolitik an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen, im Gespräch. Aber es würden Kosten bei anderen anfallen, bei den Fahrgästen und bei den anderen Bahnunternehmen, die auf Ersatzverkehre angewiesen seien oder teilweise gewaltige Umwege fahren müssten.
Wieweit Pendler im Regionalverkehr auf den Schienenersatzverkehr ausweichen, bleibt abzuwarten. Bei der ersten Sperrung im Januar seien die Busse nicht besonders stark frequentiert worden, viele Menschen seien offenbar auf mehr Home-Office, Fahrgemeinschaften oder das eigene Auto umgestiegen, erinnert sich Matthias Stoffregen. Er ist Geschäftsführer von Mofair, der Lobby der privaten Konkurrenten der Bahn, die auf deren Geleise angewiesen sind. Wenn man nun während fünf Monaten sperre, bestehe die Gefahr, dass manche Nutzer nicht sofort oder gar nicht zur Bahn zurückkehren würden.
Im Fern- und Güterverkehr wiederum werden die Umleitungen zu längeren Fahrzeiten führen, die in den Fahrplänen bereits eingerechnet sind. Reisende sollten im Durchschnitt rund 30 Minuten mehr Fahrzeit einplanen, empfiehlt die Bahn.
Und die Schweiz?
Laut den DB-Unterlagen werden auch Verbindungen, die für Reisende aus der oder in die Schweiz wichtig sind, in Mitleidenschaft gezogen. Auf der ICE-Linie Basel–Mannheim–Frankfurt–Kassel–Hamburg beispielsweise verlängert sich die Fahrzeit während der Sperre um 40 Minuten. Auf der ICE-Strecke Zürich/Basel–Mannheim–Frankfurt–Erfurt–Berlin werden die Züge über Darmstadt umgeleitet und brauchen 20 Minuten länger. Auf der ICE-Linie Basel–Mannheim–Frankfurt Flughafen–Köln entfällt wegen der Umleitung der Halt am Frankfurter Flughafen, und die Reise dauert 30 Minuten länger.
Die EC von Zürich / Interlaken Ost nach Hamburg würden zwischen Basel SBB und Hamburg ausfallen, ergänzen auf Anfrage die SBB. Innerhalb der Schweiz bleibe das Angebot unverändert. Unabhängig von der Sperre wollen die SBB weiterhin grenzüberschreitende Züge, die mit zu grosser Verspätung aus Deutschland in Basel eintreffen, durch einen Ersatzzug ersetzen.
«In gewissem Sinn alternativlos»
Für Passagiere und Güterbahnen dürften solche Sperren die Lage somit zunächst sogar noch weiter verschlimmern, bevor sie auf pünktlichere Züge setzen können. Zudem ist mangels Erfahrungswerten und angesichts klammer Finanzen schwierig abzuschätzen, ob tatsächlich alle 40 Strecken bis 2030 saniert werden können und ob die Qualitätsziele damit zu erreichen sind. So etwas habe es noch nie in Europa gegeben, gibt Eisenkopf zu bedenken.
Die Kosten für die Riedbahn-Sanierung jedenfalls werden jetzt schon überschritten: Hatte sie die DB zunächst mit rund 500 Millionen Euro veranschlagt, spricht sie seit letztem November von 1,3 Milliarden Euro. In einer Pressemitteilung begründete sie den verschämt kommunizierten Sprung mit Preisentwicklungen und einem «deutlich vergrösserten Projektumfang». Nun sei auch die bereits begonnene Umstellung der Strecke auf elektronische Stellwerkstechnik in der Gesamtkalkulation enthalten, hielt der Konzern unter anderem fest.
Als nächste sollen 2025 die Strecken Hamburg–Berlin und Emmerich–Oberhausen generalsaniert werden. Laut Stoffregen werden manche künftigen Sanierungen noch schwieriger werden als jene der Riedbahn. Denn letztere sei ein vergleichsweise einfacher Fall: Sie sei relativ kurz, es gebe gleich zwei Ausweichstrecken, und relativ wenige Unternehmen hätten an dieser Strecke einen Direktanschluss. Der Mofair-Vertreter vermutet, dass das ganze Vorhaben spätestens nach der Bundestagswahl vom Herbst 2025 überprüft und an vielen Stellen nachjustiert werden dürfte. Eisenkopf rät sogar zu einer solchen Überprüfung, um aus den Erfahrungen der ersten Sanierungen zu lernen.
Beide Experten sehen indessen auch kein taugliches Gegenkonzept zur Generalsanierung: Sie sei «in gewissem Sinne alternativlos», sagt der Ökonom Eisenkopf. «Eine richtig gute Alternative hat, glaube ich, keiner», meint Stoffregen im Gespräch.
Mehr Geld für die Bahn
Das heisst nicht, dass Mofair keine Kritikpunkte hätte. Stoffregen verweist unter anderem darauf, dass es für die privaten Bahnunternehmen keine Kompensationszahlungen für die entstehenden Umleitungs- und Ersatzverkehrskosten geben werde. Solche Zahlungen sind nur für den Schienenpersonennahverkehr, nicht aber für den Fern- und vor allem den Güterverkehr vorgesehen. Dass nur noch eine Generalsanierung helfe, habe der Bund (mit einer jahrelangen Unterfinanzierung) verschuldet. Deshalb wäre es nur recht und billig, wenn er sich jetzt auch an den Folgekosten beteiligen würde, sagt der Mofair-Geschäftsführer.
Tatsächlich war die Bahn lange Zeit unterfinanziert, zudem führten falsche Anreize zu einem «Fahren auf Verschleiss». Obwohl die Mittel in den letzten Jahren erhöht worden sind, lag Deutschland bei den Pro-Kopf-Investitionen in die Schieneninfrastruktur laut einer Zusammenstellung der Allianz pro Schiene 2022 im internationalen Vergleich noch immer im hinteren Feld. Die Kennzahl erreichte nur rund einen Viertel des Wertes der Schweiz, was sich kaum allein mit der anspruchsvolleren Topografie der Eidgenossen erklären lässt.
Inzwischen ist mehr Bundesgeld für die Bahn vorgesehen. Statt der rund 45 Milliarden Euro, auf die die DB den zusätzlichen Investitionsbedarf (nicht nur für die Generalsanierung) bis 2027 beziffert hat, stehen jedoch – auch infolge des Haushaltsurteils des Bundesverfassungsgerichts vom letzten November – derzeit nur noch Beträge von knapp 30 Milliarden Euro im Raum.
Zudem will die Bundesregierung vermehrt auf Eigenkapitalerhöhungen der Bahn statt auf Subventionen setzen. Auf diese Weise müssen die Gelder nicht auf die Schuldenbremse angerechnet werden, da ihnen ein Gegenwert in Form der Beteiligung am DB-Konzern gegenübersteht (er steht zu 100 Prozent in Staatsbesitz). Aber die Bahn muss bei diesem Vorgehen die Investitionen abschreiben und das Eigenkapital verzinsen – wofür dann, vereinfacht ausgedrückt, die Nutzer der Schienen statt wie bei Subventionen die Steuerzahler aufkommen müssen.